Schlechter Masernschutz – Deutschland kränkelt vor sich hin

Im Kampf gegen die Masern schwächelt Deutschland, der Europa-Vergleich fällt beschämend aus. Dabei könnte die Krankheit längst verbannt sein, wenn nur genug geimpft werden würde. Was läuft schief im Gesundheitswesen?

Von Josephin Mosch

Allein im ersten Halbjahr 2017 erkrankten hierzulande knapp 800 Menschen an Masern, eine 37-jährige Frau starb an den Folgen. Dabei wäre es möglich, die Infektionskrankheit zu eliminieren. Seit vielen Jahren existiert eine Impfung, die effektiv und sicher ist. Doch die Impfquoten sind zu gering. Erst wenn 95 Prozent der Bevölkerung immun sind, können sich die hochansteckenden Erreger nicht mehr ausbreiten.

Im Juli ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, das die Impfquoten weiter verbessern soll und bestehende Regelungen der Gesetze zu Infektionsschutz (IfSG) und Prävention (PrävG) ergänzt. Demnach dürfen Arbeitgeber in Gesundheitsbereichen Einstellung und Einsatzort des Personals vom Impfstatus abhängig machen. Außerdem sollen Kitas künftig Eltern, die eine Impfberatung verweigern, an das Gesundheitsamt melden. Ob diese Schritte ausreichen werden, um die Masern in den Griff zu bekommen, ist allerdings fraglich.

„Im Jahr 2015 stellte Deutschland über 60 Prozent der Masernfälle in der Europäischen Union. Ein beschämendes Ergebnis für ein Land mit so einem Gesundheitssystem und so einem Bruttoinlandsprodukt“, sagt Sabine Wicker, Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut (RKI). Nur in Italien und Rumänien gibt es ähnlich gravierende Probleme mit den Masern. Aber beide Länder haben inzwischen reagiert. Italien hat kürzlich eine Impfpflicht eingeführt, Rumänien plant ein Gesetz, um die Impfquoten zu verbessern.

Wer ist überhaupt geimpft?

Die Misere in Deutschland beginnt schon damit, dass niemand genau weiß, wie viele Menschen gegen Masern geimpft sind. Impfregister, wie es sie etwa in der ehemaligen DDR gab und die auch heute in skandinavischen Staaten existieren, fehlen. Stattdessen sind die hierzulande vorliegenden Daten reine Bestandsaufnahmen. Sie stammen vor allem aus den Schuleingangsuntersuchungen der Gesundheitsämter, bei der Kinder- und Jugendärzte die Impfpässe kontrollieren. Demnach sind etwa 97 Prozent der fünf- bis sechsjährigen Kinder einmal gegen Masern geimpft. Die nötige zweite Impfung haben nur 93 Prozent erhalten.

Doch das klingt besser, als es ist. Denn etwa sieben bis acht Prozent der Kinder, die zur Schuleingangsuntersuchung kommen, bringen keinen Impfpass mit. „Bei ihnen kann man davon ausgehen, dass der Impfschutz schlechter ist, weil nicht einmal die Impfunterlagen vorliegen“, sagt Wicker. Bei der Auswertung werden diese sieben bis acht Prozent aber nicht berücksichtigt. Die zweite Impfung haben demnach nur 93 Prozent jener Kinder erhalten, die überhaupt einen Impfpass vorlegen konnten. Der tatsächliche Prozentsatz der zweiten Impfung liegt wahrscheinlich deutlich darunter – im schlimmsten Fall bei schätzungsweise nur 86 Prozent.

Beim Masernschutz geht es aber nicht allein um Kinder. Erwachsene, die nach 1970 geboren sind, haben zum Teil in ihrer Kindheit keine oder nur eine Masernimpfung erhalten und sind sich dessen nicht bewusst. Sie sollten sich impfen lassen – doch nur jeder Vierte, der in diese Gruppe fällt, weiß das. Bei Menschen, die früher geboren sind, geht man momentan davon aus, dass sie wahrscheinlich als Kind die Masern durchgemacht haben.

Erinnern – oder zur Pflicht machen?

Eigentlich sollte das Problem zu lösen sein, denn „die meisten Impfungen unterbleiben nicht, weil sich die Menschen aktiv dagegen entscheiden“, sagt auch Annette Mankertz, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Masern, Mumps und Röteln am RKI. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil der strikten Impfgegner in Deutschland im niedrigen einstelligen Prozentbereich liegt. Deshalb schlägt Mankertz vor, Eltern, bei deren Kindern Impfungen fehlen, aktiv per E-Mail, Telefon oder Post an die Impfungen zu erinnern. Basis dafür wäre ein Impfregister.

Der Verband der Kinder- und Jugendärzte will deutlich mehr: Er fordert eine Impfpflicht – wenigstens für die Kinder, die in eine Kita gehen, wie der Bundesvorsitzende Thomas Fischbach erläutert.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hatte vor zwei Jahren erklärt, dass angesichts der nach wie vor unzureichenden Impfquoten eine Impfplicht „kein Tabu mehr“ sein dürfe. Er betont mittlerweile jedoch, dass erst alle anderen Schritte ausgeschöpft werden müssten. „Zudem müsste eine Impfpflicht immer mit Ausnahmen versehen werden, zum Beispiel aus weltanschaulich-religiösen Gründen“, so Gröhe. Impfgegner könnten sich dann darauf berufen.

Politische Optimisten und klinische Realisten

Deutschland hatte in den vergangenen Jahren mehrfach das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfehlt, die Masern zu eliminieren. Trotz allem glaubt Gröhe, dass die Maßnahmen des 2015 verabschiedeten Präventionsgesetzes kombiniert mit den Ergänzungen des Gesetzes vom Juli dieses Jahres ausreichen werden, um die Impfquoten zu verbessern. Neben durchaus sinnvollen Regelungen für medizinisches Personal, das gegen einige Erkrankungen geimpft sein muss, um vom Arbeitgeber in bestimmten Orten eingesetzt werden zu können, sieht das neue Gesetz vor, dass Eltern bei der Kita-Aufnahme belegen müssen, dass sie bei einer Impfberatung waren.

Verweigern sie sich der Beratung, muss die Kita sie ans Gesundheitsamt melden. Dann drohen nach Infektionsschutzgesetz unter Umständen Bußgelder. Entscheiden sich die Eltern aber nach der Beratung gegen das Impfen, hat das keine Konsequenzen, bemängelt Kinder- und Jugendarzt Fischbach.“Die Hürde ist höher, sich nicht beraten lassen, aber das führt letztlich nicht zwingend zu einer Impfung.“ Der Verband der Kinder- und Jugendärzte fordert deshalb, dass nur die Kinder einen Kitaplatz bekommen, die den Empfehlungen entsprechend geimpft seien.

Rechtlich wäre das durchaus denkbar, meint Andreas Spickhoff, Professor für Medizinrecht an der LMU München: „Ein gesetzlicher Anspruch auf einen Kitaplatz könnte landesrechtlich an bestimmte Auflagen geknüpft werden.“

Das hätte einen ähnlichen Effekt wie eine Impfpflicht. Freilich müssen Eltern ihre Kinder nicht in einen Kindergarten geben oder können alternativ zu einer staatlichen eine private Einrichtung wählen, die keine solchen Auflagen macht. Eine Impfung zur Bedingung zu machen, in die Schule gehen zu können, wäre hingegen rechtlich schwierig, weil Deutschland eine Schulpflicht hat.

Australien verfolgt seit anderthalb Jahren noch ein anderes Modell: Um die Impfquoten zu verbessern, wurde zwar keine Impfpflicht eingeführt, wohl aber eine Sanktion. Nach dem Prinzip „Keine Spritze, kein Geld“ („No Jab, No Pay“) erhalten nur Eltern, die ihre Kinder impfen lassen, staatliche Gelder und steuerliche Vorteile für die Versorgung ihrer Kinder – mit Erfolg: Ein Jahr nach der Einführung dieser Maßnahmen waren etwa 200.000 Kinder, bei denen zuvor Impfungen fehlten, den Empfehlungen entsprechend geimpft.

Quelle: Spiegel Online 22.08.2017

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