Der Bundestagswahlkampf geht in die letzte Runde. Viele Wähler haben Umfragen zufolge noch nicht entschieden, wo sie am 24. September ihr Kreuzchen machen sollen. Das „Kanzlerduell“ zwischen Angela Merkel und Martin Schulz im Fernsehen dürfte den Unentschlossenen kaum eine Hilfe gewesen sein. Im Gegenteil: In einem wichtigen Politikfeld – nämlich der Rentenpolitik – sind mögliche Unterschiede zwischen den beiden großen Parteien nun auch noch bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft.
SPD-Kandidat Schulz hatte im fast schon verzweifelten Versuch, die SPD-Linie gegenüber dem größeren Koalitionspartner abzugrenzen, der „Rente mit 70“ eine klare Absage erteilt – wohl in der leisen Hoffnung, die Kanzlerin könnte entsprechend der bisherigen CDU-Linie eine Festlegung in dieser Frage vermeiden wollen. Diese erkannte jedoch die taktische Falle sofort und legte sich ebenfalls fest: gegen eine „Rente mit 70“. Auch die kleineren Parteien sahen in der Folge gezwungen, klarzustellen: Niemand ist für die „Rente mit 70“! Dennoch wird sie wohl kommen…
Sie wird kommen, weil sie unausweichlich ist. Vielleicht nicht als Erhöhung der Regelaltersgrenze von (bald) 67 Jahren auf 70 Jahre, aber doch für einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung. Und sie wird nicht in der nächsten Legislaturperiode kommen und auch nicht vor dem Jahr 2030, aber im darauf folgenden Jahrzehnt.
Bis zum Jahr 2030 scheint die Finanzierung des Rentensystems weitgehend im Griff: Mit der schrittweisen Einführung der „Rente mit 67“ im Jahr 2010 durch die damalige große Koalition wurde den absehbaren Problemen der Rentenversicherung bis dahin weitgehend Rechnung getragen. Wichtigster Grund für den Handlungsbedarf: Die Deutschen leben länger und bekommen länger Rente – heute im Schnitt 17 Jahre. 1960 waren es nicht einmal zehn Jahre. Und die längere Rentenzeit muss eben finanziert werden.
Doch die größten demografischen Verschiebungen, bedingt durch die gesunkene Kinderzahl und die steigende Lebenserwartung, werden in ihren Auswirkungen auf das Rentensystem erst in den Jahren zwischen 2030 und etwa 2040 eintreten. Denn in diesen Jahren gehen die „Baby-Boomer“ in Rente, also die geburtenstarken Jahrgänge von Ende der 50er bis Anfang der 70er Jahre.
Damit verändert sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern, mehr Rentnern stehen weniger Beitragszahler gegenüber. Bleibt in dieser Phase das Renteneintrittsalter unverändert, sind diese Verschiebungen nur durch höhere Beiträge oder ein sinkendes Rentenniveau aufzufangen.
An diesen Fakten wird keine zukünftige Bundesregierung vorbeikommen. Dennoch ist das Thema „Renteneintrittsalter“ natürlich im Wahlkampf ein sehr undankbares. Für eine ehrliche Bestandsaufnahme wird es kaum Anerkennung geben, umso mehr Beifall dagegen für populistische Aussagen „zugunsten“ der Rentner. Die Wählergruppe der Rentner wird immer größer, und irgendwann möchten auch die jüngeren Wähler den Ruhestand genießen – und zwar möglichst früh. Die kommenden Generationen sind dagegen an der Wahlurne unterrepräsentiert.
Es ist bekannt, dass die in der Regel unpopulären Reformen der Sozialsystems sich leichter in wirtschaftlich schlechten Zeiten durchsetzen lassen, denn dann sind die Bürger empfänglicher für ökonomische Notwendigkeiten. In der derzeit guten Konjunkturlage mit hoher Beschäftigung und vollen Sozialkassen ist die Notwendigkeit eines höheren Renteneintrittsalters in der Zukunft dagegen kaum plausibel zu vertreten.
Daraus darf aber nicht folgen, dass man im Wahlkampf gegen besseres Wissen Versprechungen macht, die man später nicht wird einhalten können. Das schürt nur die ohnehin schon sehr hohe Politikverdrossenheit. Besser wäre es gewesen, darauf zu verweisen, dass das Thema heute nicht entschieden werden muss. In der kommenden Legislaturperiode kann eine Kommission eingesetzt werden, die die besten Lösungen für die ab 2030 anstehenden Probleme entwirft und zur politischen Diskussion stellt. Solch eine Debatte eignet sich nicht für den Wahlkampf, denn sie befördert populistische Positionen.
Das Ergebnis der notwendigen Diskussionen muss im Übrigen nicht die „Rente mit 70“ für alle sein, im Sinne einer verpflichtenden Anhebung der Regelaltersgrenze um drei Jahre. Es muss aber die Öffnung des Rentenalters nach oben sein, mit einer Verpflichtung zum längeren Arbeiten für die Mehrzahl der Arbeitnehmer. Viele werden dies auch freiwillig tun. Für diejenigen, die es aus Gründen körperlicher oder psychischer Probleme nicht können, müssen adäquate Lösungen gefunden werden, die ungebührliche Benachteiligungen vermeiden.
Es ist auch durchaus denkbar, im Sinne des Vorschlages des Sachverständigenrates von einer festen Altersgrenze zu einer flexiblen zu wechseln, die sich an der Verlängerung der Lebenserwartung orientiert. Es müsste den Menschen plausibel zu machen sein, dass zumindest ein Teil der gewonnenen Lebenszeit arbeitend verbracht werden muss, um den anderen Teil nicht nur auf Kosten der nachwachsenden Generationen zu genießen.
Insgesamt ist für mich aber ganz klar: Die Rente mit 70 wird für die meisten Beschäftigten in einigen Jahren Realität sein, und die wenigsten müssen sich davor fürchten. Die Menschen könnten es sogar als positiv empfinden, wenn sie den Rentenbeginn nach ihren eigenen Vorstellungen festlegen könnten.
Quelle: xing.de,12.09.2017
Geschrieben von Stefan Bielmeier