Rhein-Sieg-Kreis Nicht nur Senioren schätzen den Hausnotruf. Johanniter und Malteser bieten neuerdings die kontaktlose Installation an, weil viele Kunden das in Corona-Zeiten wünschen.
Der chronisch kranke Mann war mit Corona infiziert und hatte starke Symptome. Er wurde behandelt und überstand die Infektion. Und er entschied, sich einen Hausnotruf einzurichten. Er orderte das entsprechende Gerät beim Johanniter Regionalverband Bonn/Rhein-Sieg/Euskirchen, und weil er gerade selbst erlebt hatte, wie gefährlich das Virus ist und direkte Kontakte zu anderen Menschen sein können, wollte er das Gerät lieber selber installieren.
Ein Johanniter-Mitarbeiter legte ihm das Gerät vor die Haustür und leitete den Mann am offenen Fenster mit Sichtkontakt durch die Einrichtung des Systems.
Erhöhtes Sicherheitsbedürfnis in Zeiten von Sars-CoV-2
„Das hat dann sehr gut geklappt“, sagt Heike Nolden, Abteilungsleiterin beim Johanniter Regionalverband, der in Corona-Zeiten eben dieses neue Angebot für den Hausnotruf hat: die kontaktlose Installation.
„Wir haben festgestellt, dass interessierte Menschen ihre Termine verschoben haben. Gleichzeitig aber gibt es ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis“, sagt Nolden. Auch, weil die Einrichtungen der Tagespflege geschlossen seien und dort derzeit keine Pflegebedürftigen betreut werden könnten.
Kollegen kommen in Schutzkleidung zur Installation
Es gebe viele Menschen, die den Schutz wollten. Rund ein Viertel der Interessierten hätte aber Sorgen geäußert wegen des zu erwartenden Besuchs von einem Mitarbeiter für die Installation des Hausnotrufs.
„Wenngleich die Kollegen ja in Schutzkleidung kommen“, so Nolden. Allerdings gebe es dennoch eine Reihe von Kunden, die direkte Kontakte nicht haben wollten.
Hilfssystem kostet etwa 23 Euro im Monat
Über den Hausnotruf holt sich der Teilnehmer in Notsituationen per Knopfdruck schnelle Hilfe. Das System ist 365 Tage rund um die Uhr einsatzbereit. Nach der Notrufauslösung per Funksender wird von der Basisstation des Teilnehmers per Telefon automatisch eine Verbindung zu der jeweiligen Zentrale hergestellt. Der Hilfesuchende kann dann mit einem geschulten Mitarbeiter des Notruf-Anbieters sprechen und mitteilen, was passiert ist. Dieser leitet dann die entsprechenden Hilfsmaßnahmen ein.
Neben den Johannitern, dem DRK und den Maltesern bieten auch der Arbeiter-Samariter-Bund, Caritas und Diakonie den Service an. Er wird von den Pflegekassen als Hilfsmittel anerkannt. Der Basispreis liegt im Schnitt bei 23 Euro pro Monat plus Anschlussgebühr, die je nach Anbieter bis zu 70 Euro beträgt. Es können Leistungen zugebucht werden wie SOS-Notfalldose oder wöchentlicher Anruf. Weitere Informationen haben die jeweiligen Anbieter im Internet zusammengestellt.
Vor allem Ältere haben Angst
Auch die Malteser Bonn/Rhein-Sieg haben diesen Service eingerichtet, weil sie festgestellt haben, dass sich viele, vor allem ältere Menschen, zurückziehen. „Allerdings ist die Nachfrage bei uns noch nicht sehr hoch“, sagt Ruth Horn-Busch, Leiterin Soziale Dienste bei den Maltesern.+
Rastatt Schöne Gerüche, Lieblingsmusik: Auch wenn Pflegebedürftige teilnahmslos sind, gibt es weiter Dinge, die ihnen guttun. Vor allem der Blick in die Vergangenheit kann dann sinnvoll sein.
Keine Reaktion, keine Regung mehr: Gerade bei einer fortgeschrittenen Demenz sind Betroffene oft teilnahmslos. Für pflegende Angehörige ist das eine große Belastung – unter anderem, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Ein wichtiger Tipp der Zeitschrift „Pflege und Familie“: Wer teilnahmslose Menschen pflegt, sollte selbst nicht verstummen. Konkret bedeutet das: Auch wenn die Eltern oder Großeltern nicht mehr antworten, sollte man weiter mit ihnen sprechen – ihren Namen sagen, vom eigenen Alltag erzählen oder in Erinnerungen schwelgen. Auch Körperkontakt ist teilnahmslosen Menschen weiter wichtig.
Zusätzlich können pflegende Angehörige versuchen, Geruchs- oder Geschmackssinn anzuregen: mit intensiv riechenden Körperlotionen oder Gewürzen im Essen zum Beispiel, vielleicht mit Aromaölen in einer Duftlampe. Und auch Musik empfinden Betroffene oft als angenehm – allerdings nicht als Dauerbeschallung, sondern eher mit gezielt ausgesuchten Lieblingsstücken, ein- bis zweimal am Tag.
Allerdings sollten sich pflegende Angehörige bei anhaltender Teilnahmslosigkeit auch an einen Arzt wenden. Der kann klären, ob vielleicht andere körperliche oder psychische Gründe dahinterstecken. Das gilt vor allem, wenn das Problem nicht mit einer Demenz einhergeht: Nach einem Schlaganfall zum Beispiel ist Teilnahmslosigkeit möglicherweise ein Anzeichen für eine Depression.
Von Ulrike Strauch, General-Anzeiger Bonn, 17.05.2019
BONN. In Deutschland erleiden rund 270.000 Menschen pro Jahr einen Schlaganfall. Wie hoch sind die Überlebenschancen, und was lässt sich vorbeugend dagegen tun? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Bei der GA-Telefonaktion zum Thema „Schlaganfall“ haben Professor Christian Dohmen (Chefarzt der Neurologie an der LVR-Klinik Bonn), Professor Sebastian Paus (Chefarzt der Neurologie an den GFO Kliniken Troisdorf) und Professor Gabor Petzold (Leiter der Sektion für Gefäßerkrankungen des Gehirns der Neurologischen Klinik am Uniklinikum Bonn) die Fragen der Leser beantwortet.
Wie kann ich eigentlich sicher sein, dass ich in eine Klinik gebracht werde, die über eine auf Diagnose und Therapie des Schlaganfalls spezialisierte sogenannte Stroke Unit verfügt?
Bei Verdacht auf einen Schlaganfall fährt der Rettungsdienst die nächste Klinik mit einer solchen Stroke Unit gezielt an, denn bei Verdacht auf einen Schlaganfall zählt jede Minute. Linksrheinisch sind das die LVR-Klinik Bonn und das Universitätsklinikum Bonn sowie rechtsrheinisch die GFO Klinik Troisdorf-Sieglar.
Was geschieht bei der Akutbehandlung eines Schlaganfalls?
Entscheidend ist die bildgebende Diagnostik im Kernspintomographen (MRT), um das betroffene Gefäß schnell zu lokalisieren. Bei 85 Prozent der Fälle ist ein Gefäßverschluss und bei 15 Prozent eine Hirnblutung die Ursache. In der Akuttherapie gilt die Thrombolyse bislang als beste Option; und zwar innerhalb von viereinhalb Stunden nach Auftreten der Symptome.
Und was, wenn man mit einem Schlaganfall aufwacht oder sich nicht mehr verständlich machen kann, um zu erklären, wann diese Symptome genau aufgetreten sind?
Neueste Studien haben jetzt gezeigt, dass eine Thrombolyse auch später noch wirken kann. Eine Auswertung der Schnittbilder des MRT gibt Aufschluss über das biologische Alter des Schlaganfalls und den Zustand des umliegenden Gewebes. Sollte eine Lyse-Therapie nicht mehr infrage kommen, kann manchen Patienten die Thrombektomie – die Entfernung des Gerinnsels mit einem Katheter – helfen. Das ist derzeit nur bei größeren Gefäßen möglich. Die Technik wird sich aber sicher noch verfeinern.
Bei mir wurde Vorhofflimmern diagnostiziert. Reicht eine vorbeugende Einnahme von Aspirin aus, um mich vor einem Schlaganfall zu schützen?
Nein. Als Vorbeugung bringt es nichts und besitzt wegen der erhöhten Blutungsgefahr ein ausgeprägtes Risikoprofil. Für Patienten mit Vorhofflimmern gibt es spezielle gerinnungshemmende Medikamente. Lange war das Marcumar, wobei sich die für den Patienten festgelegten Gerinnungswerte oft nur schwer und selten über lange Zeit konstant halten ließen. Inzwischen gibt es neue Medikamente. Diese oralen Antikoagulanzien (NOAK) werden als Tablette eingenommen. Eine Kontrolle des Gerinnungswertes ist nicht mehr nötig. Außerdem gibt es unter diesen Medikamenten nur noch halb so viele Gehirnblutungen.
Bei mir wurde eine Verengung der Halsschlagader festgestellt. Sollte ich mich nun operieren lassen?
Grundsätzlich werden Patienten mit einer Verengung ohne Beschwerden zunächst mit blutverdünnenden und cholesterinsenkenden Medikamenten behandelt. Als erstes muss man wissen, wie hochgradig die Verengung ist, ob sie schon zum Schlaganfall geführt hat und welche weiteren Risikofaktoren vorliegen. Maßgebend ist die Ultraschalluntersuchung der Carotis. In einer neurologischen Spezialsprechstunde für Gefäßerkrankungen des Gehirns wird dann das weitere Vorgehen besprochen.
Wie ernst sollte man kurze vorübergehende Symptome wie Taubheitsgefühle, Seh- oder Sprachstörungen nehmen?
Solche transitorisch ischämischen Attacken (TIA) erschrecken die Patienten zunächst, doch dann ist es schon wieder vorüber, und der Besuch beim Arzt wird verschoben. Das kann fatale Konsequenzen haben, wenn einer vorübergehenden Embolie dann die nächste folgt, die sich nicht mehr von allein auflöst. Eine TIA erhöht das Risiko und sollte also immer ernst genommen werden. Man kann sie auch als Warnung sehen, als Chance, einen schweren Schlaganfall mit lebenslangen und teils schweren neurologischen Folgeschäden noch rechtzeitig zu verhindern.
Was kann ich selbst dazu tun, um einen Schlaganfall zu vermeiden?
Ein Schlaganfall kann jeden treffen, wobei die Wahrscheinlichkeit im Alter steigt. Auch genetisch bedingte Ursachen können eine Rolle spielen, lassen sich aber nicht beeinflussen. Wer das Risiko gering halten möchte, kann seine Lebensführung danach ausrichten. Das bedeutet: regelmäßige Bewegung, ausgewogene Ernährung und der Verzicht auf das Rauchen sowie auf übermäßigen Alkoholgenuss. Besteht ein erhöhtes Risiko, kommt es darauf an, Faktoren wie Bluthochdruck, Vorhofflimmern, Diabetes mellitus und Fettstoffwechselstörungen rechtzeitig zu erkennen.
Wie sieht es mit Nachsorge aus?
Viele wünschen sich Verbesserungen. Das betrifft die Versorgung mit Hilfsmitteln, um körperliche Folgeschäden zu kompensieren, oder auch Medikamenten, um eine Spastik zu lindern. Physiotherapie macht auch langfristig Sinn.
Viele Senioren denken über betreutes Wohnen nach. Wie diese Wohnform funktioniert und was man beachten sollte – ein Überblick.
Betreutes Wohnen ist eine beliebte Wohnform im Alter. Doch hinter dem Begriff verbergen sich viele Wohnvarianten, er führt zu Missverständnissen. Serviceleistungen gehören dazu, persönliche Betreuung eher nicht. Ein Überblick.
Das Konzept: Beim betreuten Wohnen – auch Wohnen mit Service oder Seniorenwohnen genannt – leben Senioren eigenständig in Wohnungen. Inklusive ist meist eine Basisversorgung, zu der ein Hausnotruf gehört, oft auch ein Hausmeisterdienst und ein fester Ansprechpartner, der Hilfeleistungen vermittelt. Die Bewohner können gegen Entgelt Wahlleistungen wie einen Mahlzeitenservice buchen, hauswirtschaftliche Dienste oder ambulante Pflege. Solche Konzepte gibt es in unterschiedlichsten Varianten, etwa als eigenständige Wohnkomplexe inmitten eines Siedlungsgebietes, oder sie sind an ein Alten- und Pflegeheim angegliedert. Das Angebot richtet sich eher an Senioren, die sich selbstständig versorgen können.
Der Vertrag: Bewohner schließen einen Miet- sowie einen Dienstvertrag ab, der die Basisversorgung regelt. Beide Verträge sind meist verknüpft und nicht einzeln zu kündigen. Über weitere Verträge sollten die Wahlleistungen zu vereinbaren sein. „Die Leistungen sollten nach Bedarf gewählt werden können und auch wieder zu kündigen sein“, rät Gisela Rohmann, Pflegeexpertin der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz.
Die Qualität: Betreutes Wohnen ist kein gesetzlich geschützter Begriff, verbindliche Standards gibt es nicht. Wichtig ist, dass die Wohnungen barrierefrei sind, die entsprechende Din-Norm 18040-2 gehört in den Mietvertrag. Ferner sollte im Dienstvertrag genau beschrieben werden, in welchem Umfang Leistungen abrufbar sind, zu welchen Zeiten sie zur Verfügung stehen und was sie kosten. Das gilt auch für die Wahlleistungen. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg gibt es Gütesiegel für betreutes Wohnen, die Standards definieren. Ferner legt die Din-Norm 77.800 Mindestanforderungen fest.
Die Kosten: Beim betreuten Wohnen fällt eine Miete an, plus eine Pauschale für die Grundversorgung sowie Kosten für Wahlleistungen. Die Miete orientiert sich an der ortsüblichen Vergleichsmiete, ein Aufschlag für Barrierefreiheit ist einzurechnen. Für die Grundversorgung fallen oft zwischen 60 und 150 Euro an, es gibt aber auch günstigere und weit teurere Angebote. Grundsätzlich bestehen keine einheitlichen oder festgeschriebenen Preise für betreutes Wohnen. Die Kosten müssen Senioren in der Regel selbst tragen. „Interessenten sollten genau durchkalkulieren, ob sie sich die Anlage auch leisten können, wenn sie später noch Wahlleistungen hinzubuchen müssen“, empfiehlt Rohmann. Bei Pflegebedürftigkeit können Betroffene Leistungen der Pflegekasse für einen ambulanten Pflegedienst in Anspruch nehmen.
Nur nicht ins Heim! Die meisten Menschen möchten, auch wenn sie älter, krank und gebrechlich werden, in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Auf die Angehörigen kommt damit eine große Last und Verantwortung zu. Aber es gibt Möglichkeiten, sich Unterstützung zu beschaffen.
Für ältere Menschen, die ausreichend Platz haben, ist die 24-Stunden-Betreuungskraft aus Osteuropa, meist aus Polen, eine gute Lösung. Sie lebt mit der zu betreuenden Person in Wohngemeinschaft, führt den Haushalt und unterstützt bei der Pflege. Im allseitigen Interesse ist es wichtig, eine gute Vermittlungsagentur zu finden, die Legalität garantiert. Das heißt, dass die Betreuungskraft rechtmäßig entsandt ist (A1-Bescheinigung) und dass Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuer bezahlt werden. Damit der alte Mensch und die Betreuerin gut zueinander passen, ist es wichtig, dass schon im Vorfeld Informationen ausgetauscht werden. Top ist eine erfahrene Betreuerin mit guten Deutschkenntnissen und positiven Bewertungen.
Benötigt die betreute Person mehr Pflege als die Begleitung beim Aufstehen, bei der Körperpflege und beim Essen, muss zusätzlich ein ambulanter Pflegedienst in Anspruch genommen werden, der meist morgens und abends ins Haus kommt und bei der Körperpflege, bei Ernährung, Mobilisation und Lagerung unterstützt. Als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung übernimmt der Pflegedienst auch häusliche Krankenpflege, verabreicht Medikamente, wechselt Verbände, setzt Injektionen. Ein seriöser Pflegedienst informiert im Vorfeld – und bei jeder Veränderung – über die jeweiligen Kosten (Kostenvoranschlag). Diese richten sich nach dem individuellen Bedarf des Pflegebedürftigen. Ambulante Pflegedienste bieten die Beratung kostenlos an und helfen in der Regel auch, die notwendigen Anträge bei der Pflegeversicherung bzw. der Krankenkasse zu stellen.
Ein wichtiges Qualitätsmerkmal eines Pflegedienstes ist die Verlässlichkeit. Über Änderungen oder Verspätungen wird man rechtzeitig informiert, und man kann den Dienst rund um die Uhr erreichen – auch an Wochenenden und Feiertagen. Die meisten Pflegebedürftigen sind dankbar, wenn sie sich nicht an zu viele Betreuerinnen gewöhnen müssen. Und ganz wichtig: Die Chemie zwischen Pflegebedürftigem, Angehörigen und Pflegenden muss stimmen, damit die Pflege bestmöglich gelingt.
Eine Pflegebedürftigkeit kann unerwartet eintreten – etwa wenn eine Person plötzlich stürzt. In einer solchen Situation brauchen Angehörige meist spontan frei, um die weiteren Schritte zu organisieren.
Aber dürfen Arbeitnehmer sich für die Pflege eines Angehörigen einfach freistellen lassen?
„Ja, das ist möglich“, sagt Peter Meyer, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein. „Wenn es erforderlich ist, weil eine akute Pflegesituation besteht, können Angehörige bis zu zehn Arbeitstage der Arbeit fernbleiben“.
In dieser Zeit können sie etwa eine erforderliche stationäre oder ambulante Pflege organisieren oder die Pflege selbst durchführen. In der Regel erhalten sie dann – vergleichbar mit einem unbezahlten Urlaub – in dieser Zeit kein Gehalt. Der Chef kann als Nachweis eine ärztliche Bescheinigung verlangen, die die Pflegebedürftigkeit beweist.
Manchmal entscheiden Arbeitnehmer aber auch, dass sie sich um einen pflegebedürftigen Angehörigen langfristiger kümmern wollen. „Pflegen Sie den Angehörigen zu Hause, haben Sie einen Anspruch auf vollständige Freistellung bis zu sechs Monate“, sagt Meyer. Dies müssen sie mindestens zehn Tage vorher dem Chef schriftlich ankündigen. Der Chef muss der Freistellung zustimmen, wenn er mehr als 15 Beschäftigte hat.
„Der Arbeitgeber zahlt in dieser Zeit in der Regel kein Gehalt, aber die Pflegeversicherung des Arbeitnehmers oder die private Pflegeversicherung des Pflegebedürftigen tragen die Beiträge zu der fortbestehenden Sozialversicherung.“ Vorsicht: Befristete Verträge verlängern sich nicht um die in Anspruch genommene Pflegezeit.
Will jemand einen Angehörigen häuslich pflegen und gleichzeitig in Teilzeit arbeiten, gilt etwas anderes: „Es besteht zwar grundsätzlich ein Anspruch auf eine teilweise Freistellung, den der Arbeitgeber aber bei dringenden betrieblichen Gründen ablehnen kann.“
Arbeitnehmer müssen mit ihrem Chef also eine Vereinbarung treffen. Weigert sich der Chef, muss der Arbeitnehmer auf teilweise Freistellung klagen. Hat der Arbeitgeber mehr als 25 Beschäftigte, dann ist nach dem Familienpflegezeitgesetz eine Reduzierung der Arbeitszeit für maximal 24 Monate möglich, wobei die wöchentliche Arbeitszeit mindestens 15 Stunden betragen muss.
Kurz vor der Wahl wird der Pflegenotstand zum Thema. Im Interview spricht Ökonom Stefan Sell von Niedriglöhnen und Personalmangel – und erklärt, weshalb Altenpfleger in die Gewerkschaft eintreten sollten.
Selten hat eine Bürgerfrage in einer Wahlsendung so viel Wirkung erzielt wie die von Alexander Jorde: Am 11. September konfrontierte der angehende Krankenpfleger in der ARD Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit seinem Berufsalltag. Die Würde des Menschen, laut Grundgesetz eigentlich unantastbar, werde in Wirklichkeit in Deutschland „tagtäglich tausendfach verletzt“. Es gebe einfach zu wenig Pflegepersonal.
Seitdem präsentiert vor allem die SPD Vorschläge gegen den Pflegenotstand: Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert ein Lohnplus von 30 Prozent für Altenpfleger. Parteichef Martin Schulz verspricht einen „Neustart in der Pflegestruktur“ binnen 100 Tagen und verbindliche Personalschlüssel – wofür sich auch Merkel einsetzen will.
Der Koblenzer Ökonom und Sozialwissenschaftler Stefan Sell befasst sich seit Jahren mit den Missständen in der Pflege. Er kritisiert, dass die Pflegemisere vor dem TV-Auftritt des Pflege-Azubis überhaupt keine Rolle im Wahlkampf gespielt habe und in den Programmen der Parteien stiefmütterlich behandelt werde. Tatsächlich finden sich dort – mit Ausnahme der Linken – kaum konkrete Forderungen, sondern eher unbestimmte Versprechen, sich des Themas anzunehmen.
Entsprechend skeptisch ist Sell, dass die Pflege von einer neuen Bundesregierung tatsächlich so hoch auf die Agenda gesetzt wird, wie es die Kanzlerin und ihr Herausforderer versprechen: „Darauf würde ich nicht wetten.“
Stefan Sell, Jahrgang 1964, ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Auf seinem Fachblog „Aktuelle Sozialpolitik“ setzt er sich mit den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik auseinander.
SPIEGEL ONLINE: SPD-Kandidat Martin Schulz verspricht einen „Neustart in der Pflegestruktur“, CDU-Kanzlerin Angela Merkel spricht von einer „großen Herausforderung“. Wie groß ist der Notstand in der Pflege wirklich?
Sell: Das kommt darauf an, was Sie mit „die Pflege“ meinen – die Altenpflege oder die Pflege in den Krankenhäusern? Das sind zwei sehr unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Strukturen und Problemen. Missstände gibt es zwar in beiden, aber in der Altenpflege laufen wir auf eine regelrechte Katastrophe zu: Bereits jetzt meldet die Bundesagentur für Arbeit einen flächendeckenden Mangel an Fachkräften. In Bremen – und nicht nur dort – dürfen einige Pflegeheime keine neuen Bewohner aufnehmen, weil sie nicht genügend Fachkräfte haben.
SPIEGEL ONLINE: Wieso ist die Situation in der Altenpflege noch kritischer als bei der Krankenpflege?
Sell: Altenpfleger verdienen im Schnitt bis zu 30 Prozent weniger als Krankenpfleger. Ein examinierter Altenpfleger – also eine versierte Fachkraft mit einer Ausbildung von mindestens drei Jahren – bekommt nur unbedeutend mehr als ein Helfer in der Krankenpflege, dessen Ausbildung ein bis zwei Jahre dauert. Diese Lohnlücke zwischen Alten- und Krankenpflege muss dringend geschlossen werden.
SPIEGEL ONLINE: SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert genau das: ein Lohnplus in der Altenpflege von 30 Prozent. Dafür soll der Beitragssatz zur Pflegeversicherung um einen halben Prozentpunkt steigen. Reicht das?
Sell: Ein halber Prozentpunkt klingt nach wenig, bedeutet in absoluten Zahlen aber Mehreinnahmen von 7,2 Milliarden Euro im Jahr – allein für die absolut dringendste Maßnahme. Für eine gute Pflege in beiden Bereichen werden wir insgesamt noch sehr viel mehr Geld zusätzlich ausgeben müssen. Immerhin stimmt die Finanzierungsrechnung für diese erste Maßnahme: Gesundheitsökonomen haben die Kosten für gleiche Löhne in Alten- und Krankenpflege mit 5,9 Milliarden Euro berechnet. Aber das Geld muss auch bei den Altenpflegern ankommen. Das wird absehbar nicht geschehen, wenn man sich darauf beschränkt, nur mehr Geld ins System zu geben.
SPIEGEL ONLINE: Weil die Heimbetreiber das Geld in die eigene Tasche stecken würden?
Sell: Tatsächlich werden fast die Hälfte der Heime von privatgewerblichen Trägern betrieben – also von Unternehmen, deren Zweck es ist, Gewinn zu machen. Es wäre aber falsch, die Schuld allein bei ihnen zu suchen: Sie müssen betriebswirtschaftlich denken, das hat der Gesetzgeber bewusst so entschieden. Wenn man aber ein derart sensibles Gut wie die Altenpflege schon den Kräften des Marktes öffnet, muss man die Rahmenbedingungen so setzen, dass weder die Bewohner noch die Mitarbeiter darunter leiden. Und hier liegt einiges im Argen.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Sell: Es gibt in der Altenpflege keine gesetzlich verbindlichen Personalschlüssel, sondern ein indirektes System: Abhängig vom Pflegegrad der Bewohner wird der Personalbedarf berechnet, wobei sich das von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. Für den höchsten Grad 5 gilt derzeit zum Beispiel in Bayern ein Richtwert von 1,79 Pflegekräften pro Bewohner. Auf dieser Grundlage bekommen die Heime dann Geld von der Pflegeversicherung. In der Theorie funktioniert das, in der Praxis produzieren Sie damit aber strukturell einen Personalmangel.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommt das?
Sell: Angenommen, Sie betreiben ein Pflegeheim mit 50 Plätzen, sind voll belegt und haben ausschließlich Bewohner im höchsten Pflegegrad. Wenn Sie nun entsprechend dem Schlüssel Pflegekräfte fest anstellen, kommen Sie schnell in ein Dilemma: sobald nämlich einige ihrer Bewohner mit dem höchsten Pflegegrad versterben und die Bewohner, die Sie neu aufnehmen, niedrigere Pflegegrade haben. Für die bekommen Sie natürlich weniger Geld aus der Pflegeversicherung – auf ihrer Gehaltsliste stehen aber immer noch so viele Pflegekräfte wie zuvor. Aus diesem Grund kalkulieren die allermeisten Betreiber ihr Personal unter dem eigentlichen Bedarf.
SPIEGEL ONLINE: Sie plädieren also für verbindliche Personalschlüssel, wie ihn jetzt sowohl Kanzlerin Merkel als auch Herausforderer Schulz ins Spiel bringen?
Sell: Ja, umso mehr, als die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist: Sie trägt ja nur einen Teil der Kosten, den anderen müssen die Bewohner und ihre Angehörigen selbst bezahlen – oder die Sozialämter. Ohne verbindliche Personalschlüssel ist die Versuchung für Betreiber groß, das zusätzliche Geld aus der Pflegeversicherung zum Beispiel dazu zu verwenden, die Eigenbeteiligung zu senken und sich so einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Selbstverständlich müsste nicht nur ein allgemeiner und verbindlicher Personalschlüssel eingeführt werden. Auch die derzeitige Fachkraftquote von 50 Prozent darf auf keinen Fall abgesenkt werden, wie das die privaten Heimbetreiber gerade fordern. Und selbstverständlich müsste den Betreibern zugestanden werden, ihr Personal auch dann halten zu können, wenn sich die Bewohnerstruktur wie im eben beschriebenen Szenario ändert. Sonst sparen sie nämlich an anderer Stelle zum Nachteil von Bewohnern und Mitarbeitern.
SPIEGEL ONLINE: Steigen bei einem verbindlichen Personalschlüssel automatisch die Löhne in der Altenpflege?
Sell: Das bleibt abzuwarten. In jedem Fall würde der Bedarf an Altenpflegern noch einmal steigen – und zumindest in der ökonomischen Theorie müssten die Heimbetreiber ordentlich mehr Geld bieten, um überhaupt Personal zu bekommen. Allerdings besteht in der Altenpflege ein starkes Kräftegefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen werden viele Heime von kirchlichen Trägern betrieben – und nach wie vor wird ihren Angestellten das fundamentale Recht zum Streik verwehrt. Und wo das nicht der Fall ist, sind zum anderen nur sehr wenige Pflegekräfte in einer Gewerkschaft, die gute Flächentarifverträge durchsetzen könnte. Man kann den Pflegekräften nur raten: Organisiert euch!
SPIEGEL ONLINE: Wenn es ohnehin bereits einen Fachkräftemangel gibt: Woher sollen die zusätzlich benötigten Altenpfleger denn kommen?
Sell: Die Lage ist tatsächlich schwierig, aber es gibt durchaus Potenzial: So steigt die Zahl derer, die eine Ausbildung absolvieren, auch weil einige Länder hier jüngst investiert und die Bedingungen verbessert haben – obwohl die Löhne so niedrig sind. Bei einem erheblichen Lohnplus dürften sich noch mehr Menschen für eine Ausbildung entscheiden. Außerdem arbeiten viele Pflegekräfte in Teilzeit, einige von ihnen könnten durch Anreize dazu gebracht werden, ihre Arbeitszeit zu verlängern. Viele Fachkräfte in der Altenpflege werden zudem durch eine qualifizierte Umschulung älterer Menschen gewonnen, das kann man weiter ausbauen. Und wenn das Berufsbild endlich aufgewertet wird, dann steigt auch die Ausbildungsnachfrage.
Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit Jahresbeginn deutlich angestiegen. Bei den Pflegekassen waren vergangenes Jahr 2,75 Millionen Männer und Frauen registriert. Ende Juni 2017 waren es 3,1 Millionen und damit 350.000 Menschen oder 12,9 Prozent mehr.
Das geht aus einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Anfrage der Linke-Bundestagsfraktion hervor, wie die „Passauer Neuen Presse“ vom Dienstag berichtet.
Gegenüber 1999 ist die Zahl der Pflegebedürftigen um mehr als die Hälfte (54 Prozent) gestiegen, vor acht Jahren lag sie bei zwei Millionen. Wie aus der Antwort des Ministeriums hervorgeht, werden heute auch deutlich mehr Menschen ausschließlich zu Hause von ihren Angehörigen versorgt. Hier stieg die Zahl von einer Million im Jahr 1999 auf 1,4 Millionen im Jahr 2015. Die Hälfte der Pflegebedürftigen wurde 2015 daheim betreut.
Fast doppelt so viele Pfleger wie zur Jahrtausendwende
Seit 1999 hat auch das Pflegepersonal erheblich zugenommen. Bei ambulanten Pflegediensten waren 1999 183.000 Menschen beschäftigt, 2015 waren es 355.000, also fast doppelt so viele. In Pflegeheimen stieg die Zahl der Beschäftigten von 441.000 auf 730.000.
Die Linksfraktion sieht im starken Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen ein Alarmsignal: „350.000 pflegebedürftige Menschen mehr in sechs Monaten offenbaren einen gewaltigen politischen Handlungsbedarf“, sagte Vizefraktionschefin Sabine Zimmermann der „Passauer Neuen Presse“.
Heime verhängen Aufnahmestopps
Die bisherige Politik setze auf Angehörige als „Ersatzpflegedienst der Nation“. „Während in Pflegeheimen Aufnahmestopps verhängt werden, weil Pflegekräfte fehlen, sollen die Angehörigen noch stärker in die Bresche springen“, erklärte die Linke-Politikerin.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz erklärte bereits am Montag, es gebe einen dramatischen Personalmangel und strukturelle Probleme. In der Altenpflege werde die Würde der Menschen „mit Füßen getreten in vielen Fällen“. Sollte er Bundeskanzler werden, wolle er einen „Neustart in der Pflege“ initiieren – und zwar innerhalb der ersten 100 Regierungstage. Nötig seien mehr Personal in der Pflege, eine bessere Bezahlung der Pfleger und mehr Plätze für Pflegebedürftige.
Pflege ist ja immer Hochleistungsarbeit, übrigens meist für alle Beteiligten. Herr K. spürt das ganz genau, er hat es bis zuletzt gespürt. Wochen zuvor war der Mann schwer gestürzt und seit diesem Tag querschnittsgelähmt; ein Pflegefall mit 100 Kilo Körpergewicht. Mindestens einmal am Tag musste man Herrn K. fortan zur Seite drehen, damit der Stuhl in eine Pappschale abfließt. Das stinkt dem Patienten, das stinkt im Zimmer, das stinkt auch den Pflegern, genauer: den Pflegerinnen.
Nur: Es muss nun mal sein; irgendwer muss es ja machen. Und wer macht es?
2015 hat ein Team um die Harvard-Professorin Ana Langer im Fachmagazin The Lancet schier unglaubliche Zahlen zusammengetragen: Die Analyse von Daten aus 32 Ländern, die etwa die Hälfte der Weltbevölkerung beheimaten, zeigt, dass Frauenarbeit als Beitrag zur globalen Gesundheitsversorgung einen Gegenwert von drei Billionen Dollar hat. Unbezahlte Arbeit von Frauen im Gesundheitsbereich, also auch die ehrenamtliche Versorgung von Angehörigen, macht etwas mehr als zwei Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts aus. Pflege ist, weltweit betrachtet, weiblich, oftmals prekär und eben auch privat. Die Öffentlichkeit hält sich raus, so gut es geht. In Deutschland werden mehr als zwei Drittel aller Menschen zu Hause gepflegt. Und streng genommen will ja eigentlich keiner so genau wissen, wie das war mit Herrn K. und seiner völlig intakten Verdauung.
Soweit die Zustandsbeschreibung. Man könnte nun die üblichen Forderungen aufstellen: Es braucht mehr Geld, mehr Anerkennung, mehr Arbeitskräfte in der Pflege. Das stimmt zweifelsohne, doch eine Kleinigkeit fehlt: Es braucht – dringend – mehr Männer!
Allein ein Blick auf die Statistik macht das deutlich: In den kommenden fünfzehn Jahren wird die Zahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland von 2,5 auf 3,5 Millionen Menschen ansteigen; und es ist davon auszugehen, dass weiter der Großteil zu Hause gepflegt werden will – und muss. Eine Entfeminisierung der Pflege, wie es in der Fachsprache so schön heißt, wird, ob nun gewollt oder nicht, in den kommenden Jahren dringend nötig sein; schlichtweg nur, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Und das passiert schon längst: Die Zahl der Männer in der ambulanten und stationären Pflege steigt, wenn auch nur zaghaft, seit Jahren an. Im privaten Umfeld sind immerhin ein Viertel der Pflegenden Männer. In der Öffentlichkeit sind diese Zahlen wenig bekannt, das Bild ist weiterhin starr: Pflege ist die Arbeit sich aufopfernder Frauen.
Aus Sicht eines modernen Feminismus, der sich weitaus weniger auf die Problembeschreibung als auf die Problemlösung konzentriert, wird die Frage nach Männern in der Pflege in naher Zukunft zentral werden (müssen). Denn wenn sich nicht die Männer stärker einbringen, dann werden immer mehr Frauen in der Pflege arbeiten, anstatt Berufe zu ergreifen, mit denen sie sichtbar Einfluss auf die äußere Welt nehmen. Geisteswissenschaftler nennen das die „innere“ im Gegensatz zur „äußeren“ Arbeitswelt. Die steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen könnte dazu führen, dass Frauen immer mehr in diese innere Arbeitswelt zurückgedrängt werden: Pflege, Pflege, Pflege.
Es lohnt sich daher, einem zweiten Szenario ein paar Gedanken zu schenken: Wer ernsthaft und nachhaltig Frauen den Zugang zu einer äußeren Arbeitswelt gewähren will, also Arbeit außerhalb der eigenen vier Wände, der muss Männer dazu bringen, sich in der inneren Arbeitswelt zu engagieren. Feminismus ist in puncto Arbeit ein Stück weit auch ein Tauschgeschäft, weshalb man den Begriff „Equitismus“ einführen sollte: Eine gerechtere Welt würde entstehen, wenn Arbeit und deren Anerkennung eben auch möglichst gerecht verteilt werden würde.
Es geht im theoretischen Diskurs zu dieser Frage also nicht darum, Männern ihren Kuchen des Erfolgs, also die äußere Arbeitswelt, streitig zu machen. Es geht darum, die Kuchenstücke gerecht auf alle Akteure einer Gesellschaft zu verteilen – und ja, auch die Frage zu formulieren, ob es Alternativen zu diesem Kuchen gibt. Also: Kann nicht auch die innere Arbeitswelt eine sein, in der Leistung, Erfolg und Geld zu Anerkennung führen? Oder auch: Wie kann eine Gesellschaft das Bild der weiblich-aufopfernden Pflege endlich aufbrechen?
Die Befreiung des Mannes von Rollenklischees
Die Antworten auf diese Fragen können nur dann gefunden werden, wenn Schluss ist mit dem noch immer herrschenden Vorurteil, dass feministische Debatten das Ziel verfolgten, Männer zu Verlierern degradieren zu wollen. Doch genau dieser Vorwurf ist zu erwarten: Solange Pflegearbeit die schlechtere Option ist im Vergleich zum Manager im schicken Anzug, werden Männer diese Aufgabe eher ablehnen. Und tatsächlich haben sich viele feministische Debatten in einer ausufernden Problembeschreibung verhakt, ja Feindbilder aufgebaut und verstärkt, statt konkrete Lösungen zu erarbeiten. Der Widerstand gegen viele Ideen ist auch deshalb weiterhin massiv.
Anderseits muss man eingestehen, dass der Kuchen der äußeren Arbeitswelt nach wie vor fest von Männerhänden umkrallt wird; zwar naschen Frauen immer wieder mal ein paar Krümel, aber mit Blick auf die Daten der Harvard-Autoren, auch mit Blick in deutsche Krankenhäuser und Pflegeheime, mit Blick in die Wohnzimmer alter, schwerkranker Menschen wird schnell klar, auf wessen Schultern schlecht bezahlte Gesundheitsarbeit in Deutschland und vielen Ländern dieser Erde noch immer lastet.
Weil es also ganz offensichtlich bislang nicht gelingt, Männer davon zu überzeugen, mit Frauen Anteile der äußeren gegen Anteile der inneren Arbeitswelt zu tauschen, braucht es eine alternative Strategie; eine Strategie, die diesen Tausch als Gewinn definiert; idealerweise für alle Beteiligten, Männer, Frauen, Pflegende.
Die Berufswahl „Pfleger“ gilt weithin als extrem unmännlich
Es mag ungerecht klingen, dass der Ruf nach besserer Bezahlung und höherer Anerkennung der Pflegejobs ausgerechnet dann ertönt, wenn es darum geht, Männer anzulocken. Aus pragmatischer Sicht aber muss genau das im Interesse eines modernen Feminismus sein. Noch immer sprudelt das Geld in der äußeren Arbeitswelt, noch immer wird die Produktion neuer Güter deutlich höher honoriert als die Pflege alter Menschen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind nicht „produktiv“ nach Maßstäben des Kapitalismus; was in die Irre führt, denn es ist offensichtlich, dass der gesellschaftliche Wohlstand eines Landes ohne die unsichtbare und oftmals unbezahlte Pflegearbeit nicht zu halten wäre. Es muss gelingen, die Definition von Wert und Produktivität zu verändern – und dabei kommt es auf die Männer an.
Wer die Motivation von Männern steigern will, die innere Arbeitswelt für sich zu entdecken, muss bestehende Rollenbilder überdenken und Gewinnmöglichkeiten betonen; auch hier gilt die Idee des „Equitismus“: Eine Entfeminisierung der Pflege geht zwingend einher mit einer Befreiung des Mannes von Männlichkeitsklischees. Es ist bei Weitem nicht so, dass Männer nur von Frauen versorgt werden wollen. Insbesondere, wenn es um Ansprache, Austausch und ja, auch um die Versorgung des Intimbereichs geht. Dass dieses Anliegen aber weitgehend unbekannt und ungehört bleibt, liegt nicht selten auch an einem schier unüberwindbaren Rollenverständnis: Der Wunsch nach männlicher Pflege, aber auch die Berufswahl „Pfleger“ gilt weithin als extrem unmännlich.
Ein Mann, der täglich Menschen wäscht, sie ankleidet oder Essen anreicht, riskiert auf Dauer eine Kränkung seiner männlichen Identität. Denn er muss zupackend, fordernd, wenig intim, wenig liebevoll sein. Er riskiert Häme und Spott, und sei es nur ein nett gemeinter Satz wie: „Toll, dass du dich traust, so einen Frauenberuf zu machen – ich könnte das ja nicht.“
Genau deshalb ist wichtig, die Pflegearbeit gesellschaftlich neu zu definieren und die bekannten Geschlechtsstereotypen aufzubrechen. Das ist eine Aufgabe, die sich übrigens auch an Frauen richtet. Denn auch sie tragen Geschlechterklischees weiter.
Die Frage also, wie man die intrinsische Motivation von Männern steigern könnte, die innere Arbeitswelt nicht als Bedrohung, sondern als persönliche Chance zu sehen, liegt womöglich im eigenen Schicksal: Die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal zum Pflegefall zu werden, ist im Zuge einer voranschreitenden Lebenserwartung deutlich gestiegen. Und wer selbst auf Pflege angewiesen ist, freut sich ungemein über Menschen, die professionell und ausgeschlafen arbeiten; und im Idealfall auch noch anständig bezahlt werden.
Gleiches gilt für den Fall, als Angehöriger eines Tages mit einem Pflegefall konfrontiert zu sein; man mag es kaum glauben, aber auch das betrifft immer wieder mal einen Mann. Je mehr Wissen also über Pflege in der gesamten Gesellschaft vorhanden ist, desto eher kann dieses Wissen im häuslichen, privaten Umfeld zum Einsatz kommen. Männer in der Pflege also arbeiten als Vorreiter für eine gleichberechtigte Welt, indem sie Gedankengrenzen sprengen – und ja, auch, indem sie andere Männer ermutigen, sich frei zu machen von dem Bild des starken Mackers, der so ziemlich alles darf, nur nicht Patienten wie Herrn K. beim Stuhlgang zu helfen.
Diese Befreiung kann sich sogar wahrhaftig großartig anfühlen: Vor Kurzem geisterten Fotos einer Werbung für Klodüfte durch das Internet. Die Variante für Frauen war in rosa gehalten, für „WC-Püppchen“ stand darauf – mit Blütenstaub. Die Variante für Männer, ganz in Blau, wurde mit dem Slogan „Für Sprengmeister“ angepriesen. Es ist genau dieser Erfahrungsschatz, ja das wunderbare Wissen über den menschlichen Körper, das man insbesondere in der inneren Arbeitswelt erlernen darf. Wer nur mal für ein paar Wochen die Chance hat, Patienten in einem Heim oder in der ambulanten Pflege zu betreuen, wird erfahren, dass auch Frauen beim Klogang wahre Sprengmeister sein können – und so mancher Mann ein WC-Püppchen.
Gewalt in der Pflege muss nach Darstellung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) bei der Überprüfung von Einrichtungen viel mehr berücksichtigt werden. Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Ralf Suhr, sagte der Nachrichtenagentur dpa: «Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollten ganz klar nachvollziehen können, was genau zur Sicherheit beziehungsweise zum Schutz Pflegebedürftiger vor körperlichen oder seelischen Verletzungen durch den Dienst oder die Einrichtung getan wird.»
Pflegeanbieter sollten darlegen, was sie aktiv zur Gewaltprävention unternehmen und wie sie mit problematischen Vorfällen umgehen. Gewalt in der Pflege sei schwierig zu messen, unter anderem weil sie teilweise versteckt vorkomme und Pflegebedürftige über Gewalterleben nicht berichten wollten oder gar könnten. Es wäre daher schon eine große Weiterentwicklung des sogenannten Pflege-TÜVs, wenn Pflegeanbieter ihre Maßnahmen zur Gewaltprävention nachweisen müssten, sagte Suhr.
«Es muss verbindlich werden und auch geprüft und klar dargestellt werden: Gibt es eine Fehlerkultur, gibt es ein durchdachtes und implementiertes Präventionskonzept, gibt es ein wirksames Fehlermelde- und Beschwerdesystem, wie wird mit gemeldeten Fehlern und Beschwerden umgegangen?»
Eine aktuelle Befragung des ZQP von Pflegekräften in der stationären Pflege zeige aber: «In vielen Einrichtungen (28 Prozent) werden Vorfälle überhaupt nicht in einem Fehlerberichtssystem dargestellt und der Umgang mit Aggression und Gewalt ist nicht ausdrücklich Bestandteil des Qualitätsmanagements (20 Prozent). Hier müssen wir also ansetzen.»
Suhr stellte grundsätzlich in Frage, dass – wie bisher üblich – Pflegenoten als Verbraucherinformationen über die Qualität von Pflegeheimen oder ambulanten Pflegediensten geeignet sind. «Gewaltprävention ist in jedem Fall keine Frage einer Note. Entweder ein Heim hat ein fundiertes umfassendes Konzept zur Sicherheit von Pflegebedürftigen und Gewaltprävention bei sich fest verankert oder nicht. Es sollte eine Pflicht sein, dies zu haben.»
Die Pflegenoten, die in Deutschland über die Qualität von Pflegeheimen und ambulanten Diensten aufklären sollen, waren in die Kritik geraten, unter anderem weil sie über Jahre unrealistisch gut ausgefallen waren. Daraufhin hatte die Politik die Überarbeitung dieses Pflege-TÜVs bis 2019 beschlossen. Der Stiftungsvorstand dazu: «Die Verbraucher benötigen glaubwürdige Informationen für die Auswahl von Pflegeangeboten.»