Angst vor Alzheimer – „Auch wenn die Krankheit das Leben nimmt, die Liebe nimmt sie nicht“

Jonas und Mareile haben nur wenig Zeit, um ihre Träume zu leben. Denn Jonas weiß, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit früh an Alzheimer erkranken wird.

Jonas* wollte. Nach einem Test lebt der 31-jährige Ingenieur mit der Gewissheit, dass er einen Gendefekt von seinem Vater geerbt hat, von dem nur ein Prozent aller Alzheimer-Patienten betroffen sind. Forscher gehen davon aus, dass sämtliche Träger einer solchen Mutation erkranken – und zwar in deutlich jüngerem Alter als der Großteil der Alzheimer-Kranken, die an der häufigsten, sporadischen Form oder aber an anderen familiären Formen der Demenz leiden.

Jonas ist erfolgreich im Beruf und glücklich verheiratet. Seine Frau Mareile und er wünschen sich Kinder, dabei wissen sie: Jonas würde den Gendefekt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an seine Kinder weitergeben. Wie geht das junge Paar damit um?

Jonas, wann haben Sie Ihrer Frau gesagt, dass Sie voraussichtlich an Alzheimer erkranken werden?

JONAS: Das war schon, bevor wir zusammengezogen sind. Und es war definitiv nicht mein Plan. Was hat noch mal dazu geführt?

MAREILE: Wir hatten den Verdacht, dass ich schwanger bin …

JONAS: Ouh … ja, genau.(beide lachen) Das war im November 2013. Wir kannten uns kaum zwei Monate, und ich hatte noch nicht darüber nachgedacht, ob und wann ich es dir sagen würde. Aber in der Situation gab es kein langes Überlegen. Denn ich wusste ja nicht, wie du darüber denken würdest. Mit einer Lüge hätte ich nicht leben wollen.

Können Sie sich noch an Ihre genauen Worte erinnern?

JONAS: Nein. Ich weiß noch, dass mir die Tränen gekommen sind und dass ich … einfach Angst hatte …

MAREILE: Du hast bitterlich geweint und hast mir erzählt, was für eine Krankheit dein Vater hatte. Dann bist du zum Thema genetische Belastung übergegangen.

Wie haben Sie reagiert?

MAREILE: Meine größte Angst war, dass er gerade mit mir Schluss machen möchte, weil er auf einmal so ernst war. Es tat mir unglaublich leid, dass er diese Geschichte mit sich trägt, dass er solche Angst hatte, mir das zu sagen. Aber ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich dem Ganzen nicht gewachsen wäre oder mir das zu kompliziert werden würde. Auf gut Deutsch, da muss sich das Schicksal schon etwas anderes überlegen, dass ich mir den tollen Mann entgehen lasse.

„Ich habe den Gentest nie bereut. Seitdem lebe ich viel bewusster. Er hat mich stärker gemacht.“ © Tomeu Coll

Wann trat die Bedrohung Alzheimer in Ihr Leben, Jonas?

JONAS: Im September 2006. Mein Vater übernachtete mit meinem Onkel auf einer Berghütte. Morgens war das Bett meines Onkels leer. Er war nachts auf der Toilette und hat den Weg zurück nicht gefunden. Mein Vater fand ihn zitternd auf der Treppe vor der Hütte. „Mit meinem Bruder stimmt was nicht“, sagte er uns später und klang sehr beunruhigt. Wenn ich heute zurückblicke, war mein Vater da schon selbst krank.

Wie haben Sie das gemerkt?

JONAS: Bei der Hochzeit meiner ältesten Schwester ein Jahr zuvor wollte mein Vater eine Rede halten, brachte aber nur Wortsalat raus. Danach war peinliche Stille, keiner verstand, was los war. Das muss sehr unangenehm für ihn gewesen sein, denn er war noch bei klarem Verstand. Nach der Hochzeit wollte sich noch keiner eingestehen, dass er krank war – schließlich war er erst 58 Jahre alt. Dann wurde es immer auffälliger. Er zog sich mehr und mehr in sein Büro zurück, das bei uns im Haus war. Ich weiß nicht, was er in den vielen Stunden dort gemacht hat, jedenfalls nicht mehr gearbeitet. Später haben wir entdeckt, dass es übersät war von Merkzetteln, auf denen die simpelsten Dinge standen.

Wie ging es zu Ende mit ihm?

JONAS: Wir ließen ihn noch lange in seinem Büro sitzen, weil wir glaubten, dass ihm die gewohnte Umgebung Sicherheit geben würde. Bis Mitte 2011 hat meine Mutter ihn zu Hause gepflegt, dann kam er ins Pflegeheim. Ich studierte damals im Ausland und bekam nur noch sporadisch was mit. Weihnachten besuchte ich ihn. Er erkannte mich nicht. Zwar konnte er noch sprechen, wirre Wortaneinanderreihungen, aber nicht mehr selbst essen oder trinken. Im Januar 2012 starb er an einer Lungenentzündung.

Wann schöpften die Ärzte den Verdacht, dass es ein familiärer Gendefekt sein könnte?

JONAS: Mein Onkel wurde zuerst genetisch untersucht. Mein Vater hat sich lange gegen jede Diagnostik gewehrt, aber irgendwann war er so krank, dass man auch ihn untersuchen konnte. Das war dann die Bestätigung …

… und Sie ahnten, dass auch Sie betroffen sein könnten?

JONAS: Ich war zunächst wild entschlossen, auch einen Gentest zu machen. Meine Mutter und meine Schwestern fragten mich, was mir dieses Wissen in meiner damaligen Situation bringen würde. Ich beschloss dann, lieber abzuwarten. Ein paar Wochen später war ich wieder an dem Punkt, nein, ich will es wissen! Im Oktober 2011, mein Vater lebte noch, machte ich den Test.

Wie haben Sie das Ergebnis aufgenommen?

JONAS: Meine Mutter saß neben mir im Wartezimmer. Als die Humangenetikerin kam, hätte ich auch schon wieder gehen können. Man sah ihr an, dass sie keine guten Nachrichten für mich hatte. Ich habe nicht mehr wahrgenommen, was sie alles erzählt hat. Ich schätze mich als einen sehr positiven Menschen ein, der bis zur letzten Sekunde glaubt, dass alles gut wird. Umso größer waren dann meine Enttäuschung, Trauer und Wut, und am Ende spürte ich nur noch Leere.

War es aus heutiger Sicht richtig, diesen Test zu machen?

JONAS: Ich habe den Gentest nie bereut. Seitdem lebe ich viel bewusster. Er hat mich stärker gemacht.

Wie das? Das verstehe ich nicht …

JONAS: Man bekommt eine andere Sicht auf die Dinge. Man wird dazu gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, dass wir alle irgendwann mal sterben werden. Dass man nie weiß, wann, und den Zeitpunkt nicht beeinflussen kann. Das geht aber nicht nur mir so, sondern jedem. Ich bin bloß einer von ganz wenigen, die sich so jung schon Gedanken darüber machen. Für andere mag die unheilbare Krankheit eines Familienangehörigen oder eine Nahtoderfahrung der Anlass sein. Jeder kommt früher oder später im Leben an diesen Punkt. Ich habe das schon hinter mir, und, ja, das macht vieles einfacher.

Das klingt absurd. Sie wissen, dass Sie wahrscheinlich früh an einer schrecklichen Krankheit sterben werden, und das macht Ihnen keine Angst?

JONAS: Natürlich habe ich auch Angst. Immer wenn ich vergesslich bin, denke ich an Alzheimer. Ich habe Angst vor dem Moment, in dem mir bewusst wird, es geht los, und ich bekomme alles noch mit. Vor der Ohnmacht, nichts dagegen tun zu können, ja! Aber das lähmt oder hemmt mich nicht. Es ist nicht so, dass ich wegen dieser Angst etwas nicht tun würde, es ist eher so, dass ich wegen dieser Angst etwas bewusst dann doch tue. Und da meine ich keine Dummheiten wie Drogen, Extremsportarten oder übermäßigen Alkoholkonsum, sondern einfach nur Entscheidungen, bei denen man sich unsicher ist. Dann zu sagen, ich probiere es einfach.

Ein Beispiel, bitte!

JONAS: Ein Beispiel … tja, gute Frage …

MAREILE: … Dass du mir nach einem Jahr schon einen Antrag gemacht hast?

JONAS: Tatsächlich gehört das dazu. Ich glaube nicht, dass ich mich das sonst so früh getraut hätte.

Und Sie, Mareile, haben sofort Ja gesagt? Oder hatten Sie Zweifel, ob Sie diesem Schicksal gewachsen sind?

MAREILE: Ich würde andersherum fragen. Warum sollte ich Zweifel haben? Das gehört sich für mich nicht. Sobald man mit jemandem zusammenlebt, ist das ein eheähnliches Verhältnis. Und da gehören nun mal auch Krankheiten mit dazu. Abgesehen davon ist er ja noch nicht mal krank. Das ist nur eine Möglichkeit, aber vielleicht kommt alles ganz anders.

Vermutlich werden Sie Ihren Mann in einer nicht allzu fernen Zukunft pflegen müssen. Macht Ihnen das keine Angst?

MAREILE: Doch, natürlich. Ich fürchte mich davor, dass mir vielleicht die Kraft und Ausdauer fehlen, um das durchzustehen. Dass ich irgendwann ungeduldig oder garstig mit ihm werde, ihm sogar eine klatsche. Das möchte ich nicht. Denn ich weiß ja, dass er das alles später nie machen wird, weil er ein fieser Kerl ist, sondern weil die Krankheit das mit ihm macht und er mich dann nicht mehr als seine Frau erkennt. Angst habe ich natürlich auch vor der Einsamkeit im Alter. Weil dann mit dem Lebenspartner früh ein großer Part des Lebens wegbricht. Und sollten wir mal Kinder haben, glaube ich nicht, dass die Lust haben, jeden Sonntag Mutti zum Essen dazuhaben.

Sind Sie sich sicher, dass Sie Kinder haben wollen?

JONAS: Klare Antwort. Ja!

Künstliche Befruchtung?

MAREILE: Nein.

JONAS: Sex.

Gab es darüber jemals Zweifel?

JONAS: Es gab einen Punkt, an dem wir es beide ausgesprochen haben. Das war nach dem Vortrag eines Humangenetikers, der uns versicherte, dass wir durch jede Ethikkommission kommen würden, wenn wir nach einer Gendiagnostik abtreiben wollten.

Mareile und Jonas haben sich auf einer Dating-Plattform kennengelernt und viele Wochen gechattet, bevor sie sich trafen © Tomeu Coll

MAREILE: Wir waren erleichtert, dass wir es beide so gesehen haben. Für mich wäre es keine Option, dass ich entscheide, welcher Embryo in die Tonne kommt und welcher nicht. Man stelle sich vor, wir entscheiden uns für einen Embryo ohne Gendefekt, und aus dem Kind wird ein Attentäter. Außerdem sehe ich doch an meinem eigenen Mann, dass es ein absolut lebenwertes Leben ist. Ein Kind mit diesem Gendefekt kommt nicht pflegebedürftig auf die Welt, es ist lebensfähig ohne Maschinen, es kann ein kürzeres, aber trotzdem erfülltes Leben führen.

Manche würden so eine Haltung als unverantwortlich bezeichnen.

JONAS: Oder egoistisch. Das hat mir meine Schwester vorgeworfen.

MAREILE: … die den Defekt nicht geerbt hat. Ganz ehrlich, diese Diskussion werde ich mit deiner Familie nicht führen. Wenn wir in die Planung gehen, werden wir nichts sagen. Wenn da einer der Meinung ist, das wäre egoistisch, brennt der Wald.

Auch wenn Ihr Kind den Defekt nicht erbt, kann es sein, dass Sie schon krank werden, bevor es erwachsen ist.

JONAS: Ja. Dann ist das so. Vielleicht …

MAREILE: Nein, du musst dich gar nicht erklären. Also, ich will dir jetzt nicht den Mund verbieten, aber vielleicht werde ich ja vorher noch krank. An irgendwas, was man weder durch einen Gendefekt noch sonst irgendwie erahnen kann. Das Leben ist nicht vorhersehbar.

JONAS: Ich glaube, wenn man sich mit dem Thema Tod noch nicht so offen befasst hat wie wir, ist es schwierig, unsere Haltung nachzuvollziehen, weil man in dem Moment einfach nur sieht: Der weiß aber schon mehr über den Rest seines Lebens, als ich über den Rest meines Lebens weiß, und deshalb muss er anders damit umgehen.

MAREILE: … was ja Blödsinn ist. Weil niemand das Leben überlebt. Wir können vielleicht sogar etwas mehr Vorkehrungen treffen, damit unsere Kinder nicht irgendwann dastehen und feststellen, oh, unsere Eltern haben nie ein Testament oder eine Patientenverfügung gemacht. Bei uns sind die Sachen dann geklärt, wir wollen unseren Kindern diese Last abnehmen. Außerdem tun wir auch etwas dafür, dass es vielleicht irgendwann ein Medikament gibt.

Inwiefern?

JONAS: Ich nehme an einem Langzeit-Forschungsprojekt teil und lasse mich alle zwei Jahre untersuchen, ob sich schon etwas verändert hat in meinem Körper. Das kann 10 oder sogar 20 Jahre vor Ausbruch der Krankheit passieren.

Das zwingt Sie, sich ständig vorzustellen, wie Alzheimer Ihren Körper schleichend in Besitz nimmt …

JONAS: Das kann ich nicht ausblenden, klar. Aber ich glaube, dass auch das gut ist für mich. Wenn man sich am Anfang einmal und dann nie wieder mit dem Thema beschäftigt, läuft man Gefahr, zurück in den Alltagstrott zu verfallen. Angenommen, man möchte unbedingt eine Reise machen und denkt dann, ach die mache ich nächstes Jahr, dieses Jahr muss ich noch was Dringendes für die Arbeit erledigen. Solche Sachen. Ich glaube, das passiert mir seltener als anderen.

Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wie Sie sterben wollen?

JONAS: Ja, habe ich. Ich möchte tatsächlich nicht länger als nötig am Leben gehalten werden.

Haben Sie über Sterbehilfe nachgedacht?

JONAS: Nein.

Würden Sie eine künstliche Ernährung ablehnen, wenn Sie nicht mehr essen wollen?

JONAS: Ja. Dann möchte ich, dass man mich sterben lässt – glaube ich. Aber das Problem ist: Wer soll entscheiden, wann ich nicht mehr essen will? Vielleicht kann ich einfach nur nicht artikulieren, dass ich wahnsinnige Schmerzen im Mund habe und nichts in den Mund nehmen möchte. Ja, wir wollen eine Patientenverfügung machen, aber will ich, dass meine Frau das entscheiden muss? Sie würde ständig die Last der Entscheidung tragen.

MAREILE: Aber du kannst ja in der Patientenverfügung solche Dinge sehr detailliert festlegen. Und ich bin dann nur noch die ausführende Kraft, die darauf achtet, dass diese Punkte alle abgearbeitet werden.

Jonas: Das müssen wir noch im Detail diskutieren. Spätestens wenn wir Kinder haben.

So viele schwere Gedanken, die Ihr Leben belasten. Glauben Sie, Ihre Liebe wird immer stärker sein als die Krankheit?

MAREILE: Auf jeden Fall. Auch wenn die Krankheit das Leben nimmt, die Liebe kann sie nicht nehmen. Auch wenn mein Mann mich nicht mehr erkennt, trage ich immer noch alle Erinnerungen an denjenigen in mir, der er mal war.

JONAS: Meine Eltern haben die große Liebe erlebt, die zwischendurch etwas abgeflaut war. Als mein Vater dann schwer krank wurde, hat meine Mutter ihre Liebe zu ihm neu entdeckt, das hat sie mir mehrfach gesagt. Ich glaube, die Liebe ist etwas, was nicht nur im Moment existiert. Deshalb ist sie auch nicht auf den Moment angewiesen.

*Jonas möchte nicht, dass Arbeitgeber und Freunde von seinem Schicksal erfahren. Deshalb bleibt er anonym.

Quelle: stern.de, 18.06.2017

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